Prolog Höllberg - Reckert

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Teil 1
1.  Prolog

Der Fußweg entlang der alten Mauern des Sanatoriums Waldberg versank in Dunkelheit, als eine Wolke sich vor den fast vollen Mond schob. Nur die in den Boden eingelassenen Lichter, die die Auffahrt hin zum Haupteingang des Sanatoriums begrenzten, gaben noch einen Anhalt darauf, wo auf dem Gelände der Mann sich befand. Ihr schwacher Schein war jedoch so weit entfernt, dass der Fußweg, auf dem er stand, in völliger Finsternis lag, was dem Mann sehr gelegen kam. Wenn es nach ihm ginge, könnte die Wolke dort vor dem Mond noch einige Zeit stehen bleiben, doch der auffrischende Wind verhieß anderes.
Er wusste, dass es zu allen Seiten des Sanatoriums Notfallscheinwerfer gab, die jedoch nur bei einem unerwarteten Zwischenfall die Fassade und die Umgebung des Gebäudes erleuchteten. Er hoffte inständig, dass sie in dieser Nacht dunkel blieben.
Der Wind ließ die Blätter der alten Eichen rund um das Sanatorium hörbar rauschen. Der Mann hielt inne und lauschte. War da ein Rufen zu hören gewesen? Nein, es war sicher nur das Geräusch des Windes in den Bäumen. Oder war es das Rauschen des eigenen Blutes, das er hörte? Hatte man ihn doch entdeckt? Er spürte, wie sich sein ohnehin schon schneller Herzschlag noch etwas beschleunigte. Es war ihm, als könne er jeden Schlag laut und deutlich hören und wenn er dies konnte, dann konnten andere es vielleicht auch. »Das ist Blödsinn, kein Herzschlag ist so laut, dass er mich verraten könnte«, versuchte er sich, zu beruhigen.

Er wusste, zu seiner Linken befand sich die Mauer des Sanatoriums, hinter ihm, die Lichter des Haupteingangs. Zu seiner Rechten führte der schmale Fußweg zurück zum Loch im Zaun, durch das er, hoffentlich unbemerkt von den Kameras, auf das sonst gut abgeschirmte Grundstück gelangt war. Er atmete mehrmals tief ein und aus, ein vergeblicher Versuch, die Angst und die Anspannung wegzuatmen. Der Mann dachte kurz darüber nach, ob er seine Taschenlampe benutzen sollte, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Auch wenn alle Fenster des Sanatoriums um diese Zeit in der Nacht dunkel waren, wollte er doch nicht riskieren, dass ihn jemand anderes sah, als die Person, die er hier zu treffen gedachte.
Bisher schien er unbemerkt geblieben zu sein und das Rauschen der Bäume war nicht mehr als eben nur das Spiel des Windes im Blätterwerk. Sicherlich übertönte der Wind auf diese Weise nicht nur seinen Herzschlag, sondern auch seine Schritte auf dem Weg und spielte ihm so in die Karten.
Vorsichtig ging er weiter. Es war ein merkwürdiges Gefühl, die Füße in die absolute Dunkelheit zu setzten, nur im Vertrauen darauf, dass der Weg, auf dem er stand, auch in einem Meter Entfernung noch da war. Er wusste, dass, sollte er auf der einen Seite vom Weg abkommen, er geradewegs ins Gebüsch laufen würde und dass auf der anderen Seite die Außenmauer des Sanatoriums den Weg begrenzte und doch tat er jeden Schritt mit größtmöglicher Vorsicht und nicht ohne Angst.
Sein Ziel, der Seiteneingang, musste noch fast 50 Meter weiter hinter der Kurve auf der Westseite des Gebäudes liegen. Er hatte sich den Ort zuvor genau auf Satellitenbildern angeschaut. Doch nun stand er hier in der Dunkelheit und das war nicht das Gleiche, wie etwas aus mehreren hundert Metern Höhe vom Büro aus mit Google Earth zu betrachten.
Plötzlich bemerkte er einen fahlen Lichtschein. Direkt über ihm, in der dritten Etage des Gebäudes, war in einem Zimmer das Licht angegangen. Vielleicht handelte es sich dabei sogar um „ihr“ Zimmer. Der Mann wagte kaum, zu atmen. Er richtete den Blick zum erleuchteten Fenster hinauf, hielt erneut inne und horchte in die Nacht. Nichts geschah. Was hätte auch geschehen sollen? Sicher hatte von dort oben keiner bemerkt, dass er hier eingedrungen war. Wahrscheinlicher, als dass jemand ihn von dort oben aus bei dieser Dunkelheit gesehen hatte, war es schon, dass man Wachhunde auf ihn hetzte. Das hatte er bei seinen Recherchen gar nicht bedacht. Gab es hier Hunde? War das Sanatorium durch eine Horde reißender Bestien bewacht? Doch nun war es sowieso zu spät. Da aber bisher keine bellende Bestie ihn verfolg hatte, war die Chance gegeben, dass es nicht mehr dazu kommen würde.
Er musste an einen Sherlock Holmes Film denken, den er vor einigen Tagen geschaut hatte. Der Hund von Baskerville. Doch hier war nicht Datmoore und auf ihm lastete kein Fluch.
Er versuchte, die Gedanken an die nebeligen Hügel rund um das Anwesen der Baskervilles abzuschütteln. Er war nicht Sir Hugo Baskerville und er hatte nicht eine junge Frau zu Tode gehetzt. Auf ihm lastete kein Fluch. Also weiter, damit er das Treffen mit seinem Kontakt nicht verpasste.
Sein Kontakt würde nicht auf ihn warten. Im gleichen Augenblick, da er seinen Weg langsam fortsetzen wollte, öffnete jemand das beleuchtete Fenster. Der Mann drückte sich sofort an die Mauer, um nicht etwa doch von oben gesehen zu werden. Er konnte durch das offene Fenster Stimmen vernehmen, aber es ließ sich weder genau sagen, um wie viele Personen es sich handelte, noch ob es männliche oder weibliche Stimmen waren. Dazu war das Rauschen des Windes zu laut.
Plötzlich hörte er einen Schrei und mit einem dumpfen Schlag krachte etwas Großes direkt vor seinen Füßen auf dem Weg. Der Mann hatte das Gefühl, dass sein Herz, das soeben noch gerast war, für einen Schlag aussetzte. Er richtete seinen Blick wieder in Richtung des Fensters und konnte gerade noch erkennen, wie es jemand schloss. Wenige Sekunden später erlosch das Licht.
In diesem Augenblick gaben die Wolken den Blick auf den Mond wieder frei und in seinem fahlen Schein zeichneten sich die Umrisse des verrenkten Körpers eines Menschen ab. Der Mann machte einige Schritte auf den Körper zu und kniete sich neben die Person. Es war zwar zu dunkel, um ein Gesicht zu erkennen, doch hegte er keinen Zweifel daran, dass sie es war.
Und jetzt konnte er auch ihre Stimme hören. Sie lag auf dem Rücken und blickte in den Himmel. Er musste sein Ohr dicht über ihren Mund bringen, damit er die geflüsterten Worte verstand, bevor der Wind sie mit sich fortnahm.
»Ja, ich verspreche es!« Er presste jede einzelne Silbe heraus. Doch im gleichen Augenblick, in dem er der alten Frau das Versprechen gab, wusste er, dass er es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht würde halten können.
In diesem Augenblick begann die Sirene zu heulen und die Scheinwerfer rund um das Sanatorium flammten auf. Der Mann erhob sich, wobei er noch einen letzten Blick auf die Frau vor sich warf, doch sie erwiderte ihn nicht mehr. Ihr Kopf war zur Seite gesunken.
Dann rannte er in Richtung des Fußwegs, über den er das Grundstück betreten hatte. Hatte er da etwas doch das Bellen eines Hundes gehört? Oder war es nur der Schrei eines Menschen gewesen?
Er zwängte er sich durch das Loch im Zaun und lief die Landstraße entlang, bis zu dem Ort, an dem sein Wagen geparkt stand. Er stieg ein und versuchte mit zitternden Fingern den Zündschlüssel in das Zündschloss zu stecken. Als dies nach einer, seinem Empfinden nach, kleinen Ewigkeit endlich gelang, startete er den Motor, legte den Gang ein und trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Mit quietschenden Reifen setze sich der Wagen endlich in Bewegung.
Im Rückspiegel konnte er das inzwischen hell erleuchteten Sanatorium erkennen. Er hatte das, was ihn hierher gebracht hatte, nicht erledigen können. Und er würde es auch nicht mehr erledigen können. Doch das war nun plötzlich nicht mehr wichtig. Wichtig war nur noch das Versprechen, das er der Sterbenden gegeben hatte. Ein Versprechen, das nicht so einfach zu halten sein würde, wie er es gegeben hatte.
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